Gästeabend am Freitag, dem 26. April 2024 – „Was macht das Leben lebenswert“

Was macht das Leben lebenswert? Ethische Werte im Wandel unserer Zeit.

1. Was ist ein Wert? Begriffsbestimmung
Bewußt verzichte ich auf die Ausführungen im Internet. Stattdessen werfe
ich meinen Blick in einige Nachschlagewerke zur Philosophie. Dort finde ich
den Begriff Wert von dem Physiologen und Philosophen Rudolf,Hermann
Lotze (Lebensdaten: 1817-1881), Professor in Göttingen, Neukantianer,
erklärt als von Menschen anerkannte Leitvorstellung und Orientierung zur
Handlung. Lotze ist der Begründer der Wertphilosophie. Für ihn, den
philosophischen Naturwissenschaftler, steht der anthropologische Aspekt
im Mittelpunkt. Durch menschliches Denken und Sprechen entsteht eine
geistig-kulturelle Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt.

Gewissen und Sittlichkeit sind innere Prozesse, Denken und Erkennen rein
gegenständlich. Die Gestaltung von Werten entscheidet die Frage nach dem
Sinn eines Lebens, das im Dienst der Kultur stattfinden soll. Werteskala und
Sinnfrage müssen ständig neu hinterfragt bzw. neu bestimmt werden.1
Schon früh übt Friedrich Nietzsche im 19.Jahrhundert Kritik an dieser
Wertephilosophie und fordert eine Umwertung der Werte und ihrer
christlichen Moral.2 Martin Heideggers Kritik Anfang des 20.Jahrh. betrifft
die Unverbindlichkeit von Werten und der Jurist und Staatsrechtler Carl
Schmitt spricht zur gleichen Zeit von einer Tyrannei der Werte.

An dieser Stelle möchte ich gerne kurz einen Bezug zur Freimaurerei
herstellen. Wir erleben in unserer Ritualarbeit ein freimaurerisches,
lebenswertes Wertesystem. Es bleibt unverändert in seinem generellen
Anspruch. Ständigem Wandel unterliegt es jedoch durch persönliches
Erleben und in der Selbstverwirklichung des einzelnen Freimaurerbruders in
seinem Denken und seiner Erkenntnis. Unsere Rituale vermitteln Ansätze
zur Entwicklung von eigenen Werten. Die Wertegemeinschaft der Logenbrüder kann nicht die ganze Welt zum Guten verändern, doch dazu beitragen, aus guten, bessere Menschen zu machen.

Die philosophischen Schwächen des philosophischen Wertebegriffs liegen in
seiner Subjektivität, seinen situativen, sozialen und kulturspezifischen
Aspekten. Es ist schwierig, eine verbindliche Werteordnung für die Bereiche
Religion, Ökonomie, Freizeit, Arbeitswelt und Politik in einer einzigen
Theorie vorzuschreiben.

Der deutsche Philosoph Heinrich Rickert (Lebensdaten: 1863-1936),
entwickelt ein System der Werte. Er lehrte Philosophie als Neukantianer in
Freiburg und Heidelberg. Rickert betont, daß sich ein Wert im strengen Sinn
nicht eindeutig festlegen läßt. Hier handelt es sich um eine oberste,
letztliche Begrifflichkeit, der viele Definitionen zu Grunde liegen. Rickert
setzt Lebenswerte und Kulturwerte des Menschen in Beziehung
zueinander. Seine Metaphysik beruht auf einer biologisch-organischen
Ebene. Das Weltganze wird in einem organischen Zusammenhang als Wert
betrachtet. Diese Wertlehre basiert auf einem offenen System, das in drei
Stufen zur Vollendung gelangt:
1.:Orientierung an der lebendigen Gegenwart (=Gegenwartsgüter);
2.: Wertbestimmung für die Zukunft (=Zukunftsgüter);
3.: Streben nach Wertverwirklichung durch Kontemplation (=Ewigkeitsgüter).
Auf welcher Stufe der Mensch leben möchte, sollte er selber bestimmen mit Hilfe seines eigenen Wertesystems und seiner
Weltanschauung. Das Rickertsche Wertesystem umfaßt acht
unterschiedliche Wertgebiete:
Logik, Ästhetik, Mystik, Ethik, Erotik,
Sexualität, Religion und Philosophie.

2. Ethik und lebenswerte Werte
Die praktische Philosophie mit ihrer Ethik (= Sittenlehre) lehrt uns, sittliches
Handeln zu ermöglichen. Sie untersucht, was in der Welt für wertvoll
gehalten wird durch die Verwirklichung ethischer Werte. Ethik dient der
Entwicklung eines Wertebewußtseins. Ethische Werte offenbaren eine
Gesinnung und ein durch das Wollen gesteuertes Verhalten. Menschliches
Leben bewirkt ständige Veränderung des Wertebewußtseins. Jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens seine eigene Priorität an Werten, verwirklichen möchte.

Sittliche Werte sind nur sinnvoll, wenn sie auf die
reale menschliche Persönlichkeit bezogen werden (=Personenwerte).
Bedeutsame Werte für jeden Menschen sind die folgenden Grundwerte, die
über allen anderen stehen sollten: Der Wert des Lebens, des Bewußtseins,
der Tätigkeit, die Fähigkeit, Leid zu ertragen, der Wert der Kraft, der
Willensfreiheit, der Voraussicht, die Fähigkeit zum zweckmäßigen Handeln.
Im Bereich der ethisch bedeutsamen Werte steht auch die Tugend, definiert
als ein Wille, der sich ständig auf das sittlich-Gute richtet. Als
Kardinaltugenden verstehen die Philosophen Platon und Aristoteles:
Weisheit, Tapferkeit, Klugheit, Besonnenheit, Maßhalten, Gerechtigkeit,
Selbstbeherrschung, Wohltätigkeit. Die christliche Philosophie hebt Glaube,
Liebe, Hoffnung hervor. Bei weiteren Philosophen finden wir in der
Tugendlehre auch noch Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Zuversicht, Treue,
Vertrauen, Bescheidenheit, Demut, Pflichterfüllung, Solidarität und
Toleranz.

3. Tugend und Moral Seit Platon und Aristoteles wurde Tugend zu einem
Grundbegriff der Ethik. Ein Mensch, der seine Handlungen freiwillig auf das
ständig sittlich Gute ausrichtet, bildet das Ideal einer durch Erziehung und
Selbstverwirklichung vortrefflichen Persönlichkeit. Er versucht, durch stete
Übung, eine sittlich gute Lebensführung zu erreichen. Ein tugendhafter
Mensch handelt aus Verantwortung für sich und seine Mitmenschen.
Freiwillige Motivation und Entscheidungskraft des Handelnden kommen
anderen zugute und sorgen auch im eigenen Interesse für eigenes
Wohlergehen und Glück. Somit gilt Tugend als ein Wert an sich und bildet
Bestandteil eines guten Lebens.In einem lebenswerten Leben bildet die
Moral (= Sitte, Charakter) den normativen Grundrahmen für menschliches
Verhalten zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zur Natur. Hier geht es
um die Anwendung von Handlungsregeln, Wertmaßstäben und
Sinnvorstellungen. Sie sind Bestandteil einer komplexen, sozialen,
wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen, gelebten Ordnung.

Durch Aufwachsen, Erziehung, beeinflußt durch Leitbilder, entsteht beim
einzelnen Menschen eine persönliche Haltung, seine Sinnesart, sein
Charakter und seine Lebensgewohnheit. Ein moralischer Mensch zeichnet
sich durch ein höheres Maß an Bewußtheit und Verantwortung aus. Für ihn
besteht seine Lebensform aus einer allgemeinen Grundübereinstimmung
bezüglich Achtung vor Menschenwürde, Humanität und Toleranz. Sein
Leben erhält auf der Basis gegenseitigen Vertrauens Stabilität und Schutz.
Ein Zusammenleben in diesem Lebensmuster ist durch Verläßlichkeit und
Verstehen möglich. Dieses sinnvolle Leben besteht aus kollektiven
Erfahrungen, schöpferischen Sinnentwürfen und dient der humanen
Selbstverwirklichung. Neue Lebensbedingungen und der Anspruch auf ein
humanes Dasein erfordern Offenheit gegenüber Veränderungen. Moral in
der Analyse bei Otto Höffe bezieht sich nicht nur auf Personen, sondern
auch auf Institutionen und soziale Strukturen.

4. Wertewandel im Sinne einer praktischen Ethik Der australische Professor
für Philosophie Peter Singer (geb. 1946) veröffentlicht 1979 sein Buch
Praktische Ethik. Dieser Ethikentwurf bezieht sich auf Lösungsansätze für
Probleme der damaligen Zeit, die auch noch unsere heutige Zeit betreffen:
Behandlung ethnischer Minderheiten, Gleichheit für Frauen, Nutzung von
Tieren zu Ernährungs- und Forschungszwecken, die Erhaltung der
natürlichen Umwelt, Abtreibung, Euthanasie, die Verpflichtung der
Wohlhabenden den Armen zu helfen. Ethik ist somit keine Verbotstafel, kein
ideales System, nicht relativ oder subjektiv. Ethik ist vielmehr eine
Auffassung, in der Vernunft eine wichtige Rolle spielt.
Das Bekenntnis zur Demokratie garantiert die bestmögliche Voraussetzung
für eine friedliche Ordnung der Gesellschaft im egalitären Zeitalter. Dort
besitzt das Mehrheitsprinzip ein moralisches Gewicht. Die Pflicht, einem
echten, demokratischen Mehrheitsbeschluß zu gehorchen, ist jedoch nicht
absolut. Ethik verlangt von uns, über unseren persönlichen Standpunkt
hinauszudenken, um zu einer universalen Beurteilung von weltweiten
Problemen gelangen zu können. Das führt zu moralischem Handeln unter
Einschränkung des Eigeninteresses. Ethik wird so zu einem Produkt des
sozialen Lebens, das die Funktion hat, Werte zu fördern, die gemeinsames
Gut für die Mitglieder der Gesellschaft sind.

In dem Kapitel: Hat das Leben einen Sinn ? entwickelt der Philosoph Singer das
Menschenbild von einem zielbewußten Wesen, das Glück und Erfüllung erlangt
durch das Erreichen dieser Ziele. Singer sieht den Zusammenbruch der
traditionellen Ethik als vollzogen an, da die, Zitat „Heiligkeit“ des menschlichen
Lebens um jeden Preis, antastbar geworden ist. Ihr gegenüber steht heute die
Frage nach der Lebensqualität. Die neue Ethik der Lebensqualität fragt : Was
soll für ein Leben geführt werden und unter welchen Bedingungen? Dazu
gehört auch, daß der, der um den Tod bittet, Hilfe und Beistand erhält, damit er
menschenwürdig und schmerzfrei sterben kann. Die praktische Ethik beinhaltet
ferner, daß der Wert menschlichen Lebens verschieden ist, der handelnde
Mensch die Verantwortung für die Folgen seiner Entscheidungen übernehmen
muß, andere Menschen wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit nicht diskriminiert
werden dürfen.

5. Ethik, moralischer Fortschritt, Wertewandel und Weltanschauung in einer
neuen, zeigemäßen und rationalen Aufklärung des 21. Jahrhunderts
Seine neuzeitliche Identität sollte der Mensch persönlich in seiner Tradition
von Familie, Umwelt und Gemeinwesen empfinden. Der Mensch unserer Zeit
muß wieder lernen, sein ideologisches Milieu als Kraftfeld zu erkennen und zu
nutzen. Die Chance liegt auch in der Rückgewinnung verschütteter, spiritueller
Güter. Für den Philosophen Singer ist die Verpflichtung zu helfen eine wichtige
Forderung in einer praktizierten Ethik. Schlechtes verhüten zu können ist
möglich, ohne irgend etwas von moralischer Bedeutung opfern zu müssen.
Ethik und Eigeninteresse müssen sich nicht ausschließen, wenn Ethik als ein
Produkt des sozialen Lebens erwächst. Ethisches Leben bedeutet nicht
Selbstaufopferung, sondern Selbsterfüllung. Dazu gehört Eintreten gegen
Unrecht, Mildtätigkeit zu üben, sich einzusetzen für den Schutz der Umwelt
und Achtung gegenüber der Schöpfung zu zeigen. Sinnvolles Leben ist
zielgerichtet. Der Mangel an zielgerichteter Tätigkeit führt zu Neurosen,
Konsumzwang und letztlich zur Verschwendung. Dauernde Zufriedenheit und
Bereicherung liegt dagegen in der Beteiligung an einer größeren Sache, in der
Weiterentwicklung von Bewußtsein, aktive Hilfe zu leisten, um Schmerzen und
Leid in der Welt zu verringern durch ein ethisches Leben.

Der Philosoph Markus Gabriel zeigt auf, daß philosophisch-ethische
Gedankengänge heute konkrete Alltagssorgen und Denkformen betreffen.
Heutige Werte sollten universal verstanden werden. Moralischer Fortschritt ist
auch in Krisenzeiten möglich, wenn praktisches, ethisches Handeln auf
rationalem, systematischem und ergebnisoffenem Nachdenken aufbaut. Der
Mensch sollte sich als ein verantwortungsvolles Wesen begreifen, das die
Fähigkeit besitzt, höhere, universale Moralität zu erkennen und danach zu
handeln.18 Zur Verwirklichung einer neuen Aufklärung im 21.Jahrh. fordert
Gabriel, das Unterrichtsfach Ethik in den Schulen einzuführen. Ethikunterricht
muß uneingeschränkt für alle Schüler gelten, unabhängig von der Schulform,
von Religion, Herkunft, Vermögen, Geschlecht und politischer Meinung.
Unsere moderne Demokratie mit ihren rechtsstaatlichen Werten im
Grundgesetz bezieht sich auf die Gedanken der deutschen Aufklärung des
18.Jahrhunderts. Die neue Aufklärung des 21. Jahrhunderts ist aufgefordert,
diese Gedanken inhaltlich zu erneuern und umzusetzen in ein Bekenntnis zu
einem moralischen, ethischen Realismus und Universalismus. Dieser
neuzeitliche Realismus verlangt vom Menschen weltoffenes, intelligentes,
eigenverantwortliches Handeln im Sinne des moralisch Guten. Moralische
Entscheidungsfindung steht dabei über mehrheitlicher Entscheidungsfindung.
Moralisches Handeln in diesem Sinne entsteht durch ein praktisches
Selbstverständnis, Überlegung und Beratung mit anderen. Eigener Wille und
bereits vorhandenes, praktisches Wissen sind die Voraussetzung zu einem
moralischen Handeln, bestimmt durch Rationalität und praktische Vernunft.

Praktische Vernunft ist das Verhältnis des Menschen zu sich und seiner
natürlichen und sozialen Welt. Folgt der Mensch dieser Vernunft, steuert er
seine Antriebskräfte in einem wohlbestimmten, fortschrittlichen Sinn.
Jetzt befinden wir uns bereits auf dem Boden der Praktischen Philosophie zu
Beginn des 21.Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht dort eine angewandte Ethik,
strukturelle Rationalität und eine Moral, die Teil unseres alltäglichen
Orientierungswissens bildet. Die angewandte Ethik ist keine Neuerfindung
des Moralischen. Sie beruht darauf, zentrale Bestandteile unseres moralischen
Überzeugungssystems zu rekonstruieren, zu systematisieren und Orientierung
zum rationalen Handeln zu schaffen. Angewandte Ethik wird weltweit
gefordert für vielfältige Themenbereiche: Technik, Wissenschaft, Medizin,
Umwelt, Wirtschaft, Energie, Tierwohl, Rechts-, Staats- und Friedensethik.
Ausgleichende Gerechtigkeit zwischen den Generationen ist die neue soziale
Frage der Gesellschaften.

6. Das Konvivialistische Manifest (= öffentliche Erklärung). Auf einem
Koloquium 2010 in Tokio diskutieren ungefähr 50 Wissenschaftler und
Persönlichkeiten unterschiedlicher Auffassung zwei Jahre lang Thesen zur
Postwachstumsökonomie. In ihrer oben genannten Veröffentlichung stellen
sie auf der Grundlage einer universalen Ethik eine neue Kunst des
menschlichen Zusammenlebens vor.
Gefordert wird u.a. freiwilliges Engagement in Ehrenämtern, solidarische
Ökonomie, Kooperation in Genossenschaften, Verzicht auf übermäßigen
Konsum, materiellen Wohlstand einzelner. Statt Maßlosigkeit soll ein
Maximum an Pluralismus und Gleichheit zwischen den Nationen erreicht
werden durch zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse.29 Ein gemeinsames
Leben ist zu verwirklichen auf der Grundlage von Eintracht und globaler
Vielfalt, im Bemühen um dauerhafte, ethische, ökonomische, ökologische
und politische Zusammenarbeit Verzicht muß als Wert begriffen und
gelebt werden. Außerdem ist es notwendig einen neuen, radikalisierten
und erweiterten Humanismus als zeitgemäße Leitkultur zu erfinden durch
die Entwicklung neuer Formen der Menschlichkeit. Ein weltweiter
Humanismus jenseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit ist offen für
viele verschiedene Lebensentwürfe.

Er gestaltet ein Zusammenleben nach vernünftigen Regeln und gibt Orientierung und Halt für die Menschen auf
ihrer Suche nach Lebenssinn und Erfüllung.
Moral verstehen die Konvivialisten unter einem guten Leben für alle in
gemeinsamer Sozialität. Jedem Einzelnen wird Würde zuerkannt,
hinreichende materielle Bedingungen sind ihm zugänglich, Teilnahme am
politischen Leben und an Entscheidungen, die seine Zukunft und die seine
Gemeinschaft betreffen, ist für ihn möglich. Es ist jedermanns Pflicht,
Korruption zu bekämpfen und im Privatleben und bei der Arbeit
gewissenhaft und mutig zu handeln.
Praktische Ethik bestimmt auch den politischen Bereich. Legitim in
konvivialistischer Hinsicht verhalten sich Regierungen oder politische
Institutionen, die bürgerliche, wirtschaftliche, soziale, kulturelle und
ökologische Rechte anerkennen, wie in der Erklärung von Philadelphia
bereits 1944 formuliert. Hier finden wir eine Erklärung vor über die Ziele
und Zwecke der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) und über die
Grundsätze, welche die Politik ihrer Mitglieder leiten soll. Es geht darum,
Mitverantwortung zu tragen bei der Förderung der Gesundheit und der
Erziehung und Wohlfahrt aller Völker in Freiheit und Würde. Moralische
Politik findet im Sinne einer Verantwortungsethik statt, ohne
Heilsversprechen, in einem neuen, kosmopolitischen Denkprozeß.

Ökologische Gerechtigkeit ist für künftige Generationen zu erhalten,
Raubbau an der Natur zu verhindern, Energien und Rohstoffe sind
gemeinsam zu nutzen, stetige Wachstumssteigerung muß eingeschränkt
werden und Umweltschutz ohne Einschränkung stattfinden.36
Globale Vielfalt in einer organisierten Weltzivilgesellschaft führt dann auch
noch zusätzlich zu mehr Lebensqualität und Konfliktbewältigung, wenn
unterschiedliche ethische, spirituelle und religiöse Strömungen
zusammenfließen.
Das geistliche Oberhaupt der Tibeter, der Dalai Lama richtet im Januar
2015 einen Appell an die Welt angesichts der Kriege im Nahen Osten, in der
Ukraine, Somalia und Nordafrika, der damals 20 Millionen Flüchtlinge
weltweit, Bürgerkriege in Nigeria und Afghanistan, des Klimawandels, der
Umwelt-und Finanzkrise und des Welthungers. Seiner Meinung nach sind all
diese Probleme ohne eine säkulare Ethik nicht zu lösen. Ethik ist wichtiger
als Religion. Verbindliche ethische Werte einer Spiritualität jenseits von
Religion sieht er in Achtsamkeit, Bildung, Respekt, Toleranz, Fürsorge und
Gewaltlosigkeit. Globale Verantwortung ist ein Schüsselelement dieses
Konzepts einer säkularen Ethik. Ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Frieden
muß Waffenexporte verringern bzw. ablehnen und für Abrüstung plädieren.
Von den Generationen des 21.Jahrhunderts erwartet er Dialogbereitschaft
und Schulung des Geistes durch Bildung. Ein Bekenntnis zu inneren Werten
wie Mitgefühl, Güte, Geduld, Langmut, Versöhnlichkeit, Großzügigkeit,
Demut sollte das 21. Jahrhundert prägen, die Menschheit als eine Familie
verstanden werden.

Eine zukunftsfähige Perspektive für Generationen zeigt auch das
Generationen Manifest von 2013 auf. Mitglieder aus Politik, Wirtschaft und
Zivilgesellschaft fordern dort die Bundesregierung auf, zehn Punkte in ihre
politische Entscheidung und Gesetzgebung aufzunehmen. Es sind dies:
Frieden zu wahren durch Abrüstung; die Klimakatastrophe abzuwenden; ein
Bildungskonzept für das digitale Jahrtausend zu entwickeln und
umzusetzen; Hunger, Armut und Überbevölkerung zu beenden; die
wachsende Kluft zwischen Arm und Reich durch Steuergerechtigkeit und
Planung der demographischen Entwicklung der Bevölkerung zu verringern;
Haftung für Unternehmen der Industrie und der Banken auf globaler und
nationaler Ebene einzuführen; einen Gestaltungsplan auf internationaler
Ebene zu erstellen und Vorsorge zu treffen im Bereich der Migration; klare
Regeln aufzustellen für Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft;
Entsorgungslösungen zu liefern für Plastikmüll und radioaktiven Abfall; die
Aufnahme von Generationengerechtigkeit in das Grundgesetz.

In der Informationsgesellschaft unseres Jahrhunderts verschieben sich die
emanzipativen Werte, Toleranz, Gleichberechtigung, Freiheit des Denkens
und der Rede, hin zu größerer Freiheit für sich selbst und andere. Dieser
Wertewandel bezieht sich auf liberale Werte mit dem Wunsch nach
Befreiung. Freiheit wird höher eingeschätzt als Sicherheit. Vielfalt höher als
Uniformität. Autonomie höher als Autorität. Kreativität höher als Disziplin.
Individualität höher als Konformität. In seinem umfangreichen Buch
Aufklärung jetzt verteidigt der Professor für Psychologie an der „Harvard
University“ Steven Pinker die Ideale der Aufklärung des 18.Jahrhunderts,
Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt, die zeitlos sind. Er
formuliert sie neu, konfrontiert sie mit zeitgemäßen Herausforderungen und
zeigt dem Leser, daß sie auch heute noch lebenswert sind.

Bisher habe ich versucht, das Thema lebenswertes Leben und Wertewandel
unter dem Aspekt Praktische Ethik, Moral und neue Aufklärung zu
beleuchten. Voraussetzung für dieses Leben ist eine Gesellschaft, die den
Wert der eigenen Familie, egal in welcher Form, als Schicksalsgemeinschaft,
Schutz und Ort für soziale Erfahrung fördert. Schon Kinder müssen lernen
können, daß sie auf soziale Beziehungen angewiesen sind, um in einer Welt
zu überleben, die sozialstaatliche Fürsorge einschränkt.
Eine weitere Voraussetzung ist eine Staatsauffassung, die basiert auf einem
ethisch-politischen, föderativen System, ausgerichtet auf einen kulturellen
und soziologischen Kosmopolitismus. Ziel ist das Gestalten einer
Weltgesellschaft, die nationale Grenzen überwindet und ein Weltethos
entwickelt, das in politische Praxis umgesetzt werden kann. In dieser
Staatengemeinschaft findet ein grenzüberschreitendes Zusammenleben
mehrerer Nationen statt in Kommunikationsgemeinschaften. Das ist auch
eine Basis für friedliches Miteinander und ein Weg zum Weltfrieden. Ein
gerechter Staat versucht, den Nutzen aller zu optimieren.

Die Autoren Julian Nida-Rümelin und Christine Bratu weisen darauf hin, wie
schwierig es ist, im Rahmen der praktischen Philosophie Kosmopolitismus
und Weltethos in politische Praxis umzusetzen.
7. Zum Abschluß möchte ich zur Anregung der Diskussion nach meinem
Vortrag, noch einige Gedanken des israelischen Historikers Yuval Noah
Harari vortragen, die 2023 in seinem hoch gelobten und heiß umstrittenen
Buch „Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen“ veröffentlicht wurden.
Den Hinweis auf diese Publikation verdanke ich unserem Bruder Octavian.
Harari beurteilt die Menschheitsentwicklung im Rückblick auf den
Humanismus der Aufklärung und schaut anschließend in unsere Zukunft.
Trotz der Spaltung des Humanismus in verschiedene Strömungen, liberale,
sozialistische, evolutionäre, gab diese Weltsicht dem Homo Sapiens in seiner
Welt im 19. und 20. Jahrhundert einen Sinn.45 Im Mittelpunkt stand der
Mensch mit seinen Gefühlen und seinem Glauben an die Menschheit.
Seine moralische Erkenntnis bestand darin, Erfahrungen und Sensibilität zu
erleben. Die Entwicklung von Sensibilität gewann er durch praktische
Fertigkeit, gereift durch praktische Anwendung. Oberstes Ziel seines
humanistischen Lebens war, Wissen durch geistige, emotionale und
körperliche Erfahrungen voll zu entwickeln, um so zur Weisheit zu
gelangen.

Im 21.Jahrhundert verliert der Mensch, als wertvolles Individuum mehrere
Jahrhunderte lang humanistisch herangewachsen, durch die Bedrohung von
Biotechnologie und künstliche Intelligenz die Kontrolle über seine freien
Lebensentscheidungen. Die heutige Menschheit ist der Gefahr ausgesetzt,
ethisch-moralische Werte zu verlieren durch Vertrauen auf fortschrittliche
Computerintelligenz, die auch ohne Bewußtsein funktioniert. Digitale
Systeme verfügen inzwischen über hochintelligente Algorithmen, die fast
alles besser können als das menschliche Gedächtnis, was das Alltagsleben
angeht. Der auf die Naturwissenschaft ausgerichtete Sinn des Lebens liegt
heute auch darin, aus dem Homo Sapiens einen künstlichen Homo Deus zu
erschaffen. Entkoppelt vom evolutionären Humanismus wird ein Techno-
Humanismus mit Hilfe von Gentechnik, Nanotechnologie und Schnittstellen
Forschung zwischen Gehirn und Computer angestrebt. Menschlicher Geist
soll optimiert und Zugang zu neuen Bewußtseinszuständen durch
unbekannte Erfahrungen ermöglicht werden. Durch unkontrollierten
Forscherdrang und Glauben an die, Zitat: „Datenreligion“ verliert der Homo
Sapiens seinen authentischen Willen und sein authentisches Ich. Wenn in
der Politik regieren zu einer bloßen Administration verkommt, ohne
Visionen und demokratische Machtverteilung, wenn gesellschaftliche
Prozesse in ihrer Beurteilung nur noch Systemen der Datenverarbeitung
unterliegen, die Datenreligion global mit ihrem „Dataismus“ angebetet wird
als weltweit effizientes Netzwerk, wird der bewußt moralisch-ethisch
handelnde Mensch verschwunden sein.

Der Dataismus hat einen neuen Wert geschaffen, die Informationsfreiheit
ohne Grenzen. Für viele von uns ist die Teilhabe am globalen Datenfluß zum
Lebenssinn geworden. Das humanistisch geprägte Individuum fand den
Sinn seines Lebens durch äußere Erfahrungen, die er innerlich verarbeitete.
Der heutige Dataist ist davon überzeugt, daß Erfahrungen nur durch
Mitteilung an andere wichtig sind. Er kann keinen Sinn in sich selbst finden.
Die digitale Erkenntnis vollzieht sich durch aufnehmen, hochladen, teilen.
Durch Verknüpfung mit dem großen Datenstrom erkennen die Algorithmen
Sinn und regen ihn zur Tat an.
Dataismus ist weder liberal, noch humanistisch, aber auch nicht
antihumanistisch. Er verlangt eine streng funktionale Haltung des Menschen
und sieht den Wert menschlicher Erfahrungen allein in ihrer Funktion für
die Mechanismen in der Datenverarbeitung. Menschliche Vorstellungskraft
erwächst als Produkt biochemischer Algorithmen, ohne subjektives
Bewußtsein und unter Verzicht auf Gefühle.

So wie sich im 18. Jahrhundert ein homozentrisches Weltbild entwickelt
hatte, könnte im Laufe des 21. Jahrhunderts eine datazentrische Weltsicht
unsere fernere Zukunft beherrschen durch das Zitat: „hochheilige Internet
aller Dinge“. Die größte wissenschaftliche Herausforderung des 21.
Jahrhunderts liegt somit in einer kritischen, ständigen Überprüfung des
datazentrischen Weltbildes mit seiner Auswirkung auf Politik und
Gesellschaft. Die gewonnene, fast unendlich gewordene Horizont
Erweiterung überfordert den Organismus Mensch mit seiner auf Gefühlen
beruhenden Erkenntnisfähigkeit.

Für den bereits genannten Psychologen Steven Pinker, ist eine neue
wissenschaftliche Weltsicht für das 21. Jahrhundert erforderlich. Hierin
stimmt er mit Yuval Harari überein. Anders als Harari hält er jedoch den
liberalen Humanismus des 18.Jahrhunderts mit seinen ethischen Werten
grundsätzlich für zeitlos.