Freiherr von Knigge, ein Bruder der auf die Etikette achtete?
Wer Knigge hört, der denkt an feine Tischsitten, Manieren und Benimmregeln. Für den
alten Adolph Freiherr Knigge, der vor 225 Jahren starb, wäre das wohl ein Grund, sich zu
wundern. Lassen Sie uns mal ein wenig genauer hinschauen, denn Knigge hatte wohl
etwas völlig anderes im Sinn.
Schon im Vorwort seines Buches „Über den Umgang mit Menschen“ schrieb er:
„Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit
oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den
Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum
von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und
Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.“
Es ging ihm somit wohl mehr darum, das der Mensch eine innere Haltung entwickelt. Er
war vermutlich ein wohl eher typisches Kind der Aufklärung, geistiger Stürmer und
Dränger, Gegner der Despotie, Pazifist, Kosmopolit und Patriot und nahm mit kraftvoller
Begeisterung an den freimaurerischen Bestrebungen seiner Zeit teil. Dies führte ihn als
Mitglied zunächst in die „Gustav-Loge im unzertrennlichen Concordienorden“ die mit dem
Studentenorden (Burschenschaft) C.e.T. verbunden war.
Nach seiner Ausbildung wurde er in die Logen „Zum gekrönten Löwen / Kassel“ und
„Wilhelmine Caroline / Hanau“ aufgenommen. Dies führte ihn auch zur „strikten
Observanz“, die als eine weiterführende Richtung der Freimaurerei vom Reichsfreiherrn
Karl Gotthelf von Hund und Altengrotkau gegründet wurde.
Auf den Konventen der Strikten Observanz in Braunschweig, Wolfenbüttel und
Wilhelmsbad setzte sich Knigge für Reformen des Systems ein.
Später stieß er auch zu den Illuminaten. Knigge hatte dort den Auftrag, den Orden in
Norddeutschland aufzubauen, wobei es dem rastlosen und geschickten Organisator
gelang, rund 500 Mitglieder anzuwerben, in der Hauptsache Adlige und Intellektuelle.
Durch den von Knigge angeworbenen Johann Christoph Bode wurde sogar Johann
Wolfgang von Goethe gewonnen. Im Auftrag des Ordensgründers Adam Weishaupt
veröffentlichte er 1781 anonym die Polemik „Ueber Jesuiten, Freymaurer und deutsche
Rosenkreuzer“, in der er die Verschwörungstheorie verbreitete, die Strikte Oberservanz
und die Rosenkreuzer seien insgeheim Instrumente des 1773 aufgelösten Jesuitenordens,
mit denen dieser seine gegenaufklärerischen Ziele verfolge.
Nach heftigen Machtkämpfen mit Bode und Weishaupt wurde Knigge 1784 wieder
ausgeschlossen. Rückblickend meinte er, die von ihm erhoffte „Erneuerung des geistigen
Lebens der Nation“ durch den Illuminaten-Orden sei nicht durchführbar gewesen.
Woher stammte der Freiherr eigentlich? Er war ein Spross der uradligen
niedersächsischen, allerdings verarmten Adelsfamilie Knigge. In seinem Geburtsort
Bredenbeck, südlich von Hannover am Nord-Ostrand des Deisters gelegen, besaß bereits
um 1338 sein Vorfahre, der Ritter Hermann Knigge, ein Schloss.
Scherzhaft sprechen Hannoveraner übrigens davon, das Bredenbeck die letzte Station ist,
bevor man über den Deister geht.
Mit herzoglicher Erlaubnis wurde dieses Schloß zur mächtigsten Wasserburg des
Calenberger Landes ausgebaut. Die Burg brannte 1550 ab und wurde noch wehrhafter
wiederaufgebaut.
Knigge wurde am 16. Oktober 1752 geboren. Sein Vater war Carl Philipp Freiherr Knigge
(1723–1766) und seine Mutter Louise Wilhelmine (1730–1763). Knigge wuchs in
Bredenbeck auf, wo er standesgemäß erzogen wurde. Seine Mutter verstarb, als er elf
Jahre alt war, sein Vater, als er 14 war.
Als Waise erbte er Schulden in Höhe von 130.000 Reichstalern. Die Gläubiger nahmen
das Anwesen unter Zwangsverwaltung und gestanden ihm eine jährliche Rente von 500
Reichstalern zu. Von seinem Vormund wurde er nach Hannover zur Erziehung durch
Privatunterricht geschickt. Er studierte von 1769 bis 1772 Jura und Kameralistik
(Kämmerer, also Kammerbuchhalter) in Göttingen.
1771 wurde Knigge vom Landgrafen Friedrich II. von Hessen Kassel zum Hofjunker und
Assessor der Kriegs- und Domänenkammer zu Kassel ernannt. Dieses Amt bekleidete er
nur kurz, weil er sich „durch amtliche und gesellige Misshelligkeiten unmöglich machte“.
1776 erhielt er eine weitere Anstellung an einem Fürstenhof. Herzog Carl August von
Sachsen-Weimar ernannte ihn zum weimarischen Kammerherrn, wo er „als gern
gesehener Kurzweilmacher viel am dortigen Hofe verkehrte“.
Zwischen 1777 und Spätherbst 1780 lebte Knigge am Herrschaftlichen Hof des Erbprinzen
und späteren Kurfürsten Wilhelm in Hanau, wo er eine Reihe von Schriften veröffentlichte
und – bis er aufgrund verschiedener Vorfälle in Ungnade flüchten musste – offenbar ein
recht angenehmes und vom Erbprinzen finanziertes Hofleben führte. Das Dasein eines
Höflings war dem Freigeist Knigge aber zuwider, in seinem 1785 abgeschlossenen
satirischen Roman Geschichte Peter Clausens verhöhnte er die seinem Urteil nach
„erbärmlichsten Hofschranzen“ und das ganze „Hofgeschmeisse“.
Ab 1780 lebte Knigge daher in Frankfurt am Main, um sich seinen schriftstellerischen
Projekten und der Arbeit in verschiedenen Logen und Geheimbünden zu widmen. 1783
zog er nach Heidelberg, später ging er nach Hannover zurück, um sich um seine Güter zu
kümmern.
Von 1790 an lebte er bis zu seinem Tode in Bremen, wo er aus Geldnot das Amt eines
Oberhauptmanns der großbritannisch-hannoverschen Regierung übernahm. Darüber
hinaus engagierte er sich im Kulturleben der Stadt und förderte ein Liebhabertheater, bis
ihn ab 1795 Nervenfieber und Gallensteine ans Bett fesselten. Er starb am 6. Mai 1796 mit
44 Jahren.
Knigge übersetzte Schriften des französischen Aufklärers Jean Jacques Rousseau und
verfasste viele Werke zu Geschichte, Politik und Gesellschaft, auch war er in der
Theaterszene engagiert. Er war kein Verkünder feiner Tischmanieren – die Einschätzung,
dass sich Knigge-konform verhält, wer weiß, wo das Besteck zu liegen hat, ist dennoch
weit verbreitet. Doch das war nicht das Anliegen des Schriftstellers, Aufklärers und
Humanisten Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr Knigge. Zwar schrieb er 1788 das
Buch “Über den Umgang mit Menschen” und legte damit den Grundstein für die Regeln
der Etikette. Aber erst andere Autoren ergänzten das damals schon populäre Buch um die
Benimmregeln. Heute steht Knigge für richtiges Handeln schlechthin.
Die stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Knigge Gesellschaft, Linda Kaiser, macht
klar: Dem Freiherrn gehe es um “psychologische Betrachtungen der Menschen in ihrem
Wesen und ihrem System”, seine Hauptanliegen seien Wertschätzung und Toleranz:
“Deshalb ist Knigge heute noch sehr aktuell.” Damals, ein Jahr vor der Französischen
Revolution, sei die Welt im Wandel gewesen, das Bürgertum habe Handreichungen
gesucht, um wettbewerbsfähig mit dem Adel zu werden. Allerdings: Knigge wäre wohl
verblüfft über das, was aus seinen Betrachtungen geworden ist.
Denn Knigge hat das Sozialverhalten der Menschen unter die Lupe genommen, analysiert
und Schlüsse gezogen. Er rät: “Beurteile die Menschen nicht nach dem, was sie reden,
sondern nach dem, was sie tun.” Ein anderer guter Rat, nicht zuletzt angesichts von Hass
und Hetze in sozialen Medien: “Enthülle nicht die Schwächen deiner Nebenmenschen.”
Aus solchen Einsichten seien Regeln abgeleitet worden – kleine Handreichungen wie das
Aufhalten der Tür oder andere Menschen anzusehen, wenn man mit ihnen spricht, sagt
Kaiser. Heute werde das hinterfragt, es sei eine “Bedrohung für die eigene
Bequemlichkeit”. Auch werde hinterfragt, ob Zuvorkommenheit gegenüber
selbstbewussten Frauen noch angebracht sei. Für Kaiser bleibt es eine “schöne Geste”,
anderen Gutes zu tun.
Mit anderen Worten:”Das Ganze lebt durch Herzlichkeit”
Dem angeblichen Benimmpapst geht es weniger um die Darstellung der Menschen in der
Öffentlichkeit, sondern um deren innere Einstellung. Was bedeutet das? “Wenn ich in die
Wirtschaft gehe, begrüße ich den Wirt, wertschätze seine Arbeit und freue mich, dass er
mich empfängt”, erklärt Kaiser. Auch wer fit ist in Fragen der vielbeschworenen
Tischetikette, sollte sich zurückhalten, wenn jemand dabei ist, der dies nicht ist – so wird
die Situation angenehmer. Kaiser betont nochmal: “Das Ganze lebt erst durch die
Einstellung, durch Herzlichkeit.” Damit deutet Sie auch an, dass es genau die Werte der
Freimaurerei sind die den Freiherrn leiteten und nicht ein, in der Freimaurerei von der
Grundstruktur verpöntes, dogmatisches festlegen von Werten innerhalb eines Regelwerks.
Mit „Über den Umgang mit Menschen“ (heute einfach kurz als „Knigge“ bekannt).
beabsichtigte Knigge eine Aufklärungsschrift für Taktgefühl und Höflichkeit im Umgang mit
den Generationen, Berufen, Charakteren, die einem auch Enttäuschungen ersparen sollte.
Man kann seine durchdachten und weltkundigen Erläuterungen sehr wohl als angewandte
Soziologie würdigen, was in den Abschnitten Über den Umgang mit Kindern, Über den
Umgang mit Ärzten, Über den Umgang mit Jähzornigen, Über den Umgang mit Schurken
und nicht zuletzt Über den Umgang mit sich selbst deutlich wird.
Irrtümlicherweise wurde dieses Buch späterhin als Benimmbuch missverstanden, oft nur
nach Hörensagen. Dieses Missverständnis verstärkte bereits der Verlag, indem er nach
dem Tode von Knigge das Werk um Benimmregeln und Tafeletikette erweiterte. Außerdem
ist bekannt, dass etwa alle zehn Jahre eine neue Ausgabe herausgegeben wurde –
hauptsächlich mit aktualisierten Kleiderregeln. Heute erwartet man von einem „Knigge“
meist Hinweise, wie man Rot- zu Weißweingläsern beim gedeckten Tisch zueinander
gruppiert; derlei überging Knigge selbst jedoch völlig.
Machen wir uns folgendes klar, Deutschland hat sich in der Corona-Pandemie neue
Umgangsformen verordnet. Abstand halten, Maske tragen, weniger Gedränge, man weicht
sich aus – alles aus Angst vor dem Virus. Und vor Strafen. Aber was hätte bloß Knigge
dazu gesagt, was ist aus Benehmen und Etikette geworden? Selbst das Händeschütteln
hat es in sich – in der Pandemie erst recht.
Die Nachfrage nach Knigge-Seminaren ist hoch. In der Pandemie sind Online-Seminare
gefragt, auch wenn online die Inhalte nur schwer zu vermitteln sind. Es geht allerdings in
diesen Seminare allerdings nur um Umgangsformen und Etikette. Auch Tipps in Sachen
Tischetikette werden angeboten, und viele reagierten darauf “ganz dankbar”.
Aber fließt noch viel vom klassischen Knigge ein? Mit wem spreche ich wie, wie setze ich
ein wertschätzendes Miteinander um?
Fest steht, mit der sozialen Entwicklung sind auch die Regeln im Wandel. Das sehen die
beiden Autorinnen Henriette Kuhrt und Sarah Paulsen, die ein Buch über Knigge im 21.
Jahrhundert geschrieben haben, ähnlich: “Es hat in vielerlei Hinsicht ein Wandel
stattgefunden”, sagt Kurth unlängst dem “Weser-Kurier”. Und sie erklärt: “Wenn ich zum
Beispiel jemanden zum Essen einlade, dann hat man früher etwas gekocht und es wurde
gegessen, was auf den Tisch kommt. Mittlerweile fragt man aber: Ist ein Veganer, ein
Vegetarier, ein Laktose-Intoleranter dabei?”
Was meine Sie, was meint Ihr, sollten wir nicht doch besser vom Herzen ausgehend
andere Menschen behandeln? Sollten wir Ihnen nicht unvoreingenommen
gegenübertreten? Sie so behandeln wie wir es uns für uns wünschen? Ihnen ihre
Eigenheiten lassen und sie so nehmen wie sie sind? Welches Recht haben wir andere
nach unserem Gusto zu beschränken, weil wir meinen alles müsste nach unserer
Vorstellung laufen?
Danke für die Aufmerksamkeit.