Gästeabend am Freitag, dem 29. September 2023 – „Abschied und Vergänglichkeit“

I. Abschied
Abschied zu nehmen verlangt lebenslange, oft schmerzliche Übung in jeder Lebensphase.
Entschlusskraft und Handlungsbereitschaft wird hier von uns verlangt. Erlebnisse der
Vergangenheit geraten in den Blick, finden ihre Bewertung in der Gegenwart und werden
leidvoll oder freudig verabschiedet.
Verschiedene Rituale, Zeremonien oder feierliche Reden begleiten und erleichtern
Abschiede. Ohne sich von einem Verstorbenen verabschieden zu können, ist schwer zu
ertragen. Die Würdigung eines bedeutsamen Lebens bleibt verwehrt. Abschiedsprozesse
finden unter besonderen Umständen statt. Sie sind die Reaktion auf eine Trennung, ein
Bekenntnis zur Fähigkeit, sich Veränderungen anzupassen und sich zu entwickeln. Im
Wesentlichen unterscheiden sich zwei Abschiedsformen: Wiedersehen in Zukunft oder
Ausdruck eines endgültigen Verlustes.
Abschied als menschliches Handeln auf Grund einer Veränderung durch
Lebensumstände ermöglicht dem Einzelnen eine Perspektive, sich Anfang und Ende
eines Abschnitts seines Lebensweges bewusst vorzustellen. Das vollzieht sich auf
verschiedenen Ebenen. Zuerst gewinnt die Einsicht in ein unvermeidliches Ende die
Überhand, oft verbunden mit äußerlich sichtbarem Handeln in Wort, Schrift, Zeremonie.
Dann folgt die Wendung nach innen. Sie ist bestimmt durch Trauer, emotionale
Verarbeitung des Verlustes und Loslassen des Vergangenen. Letztlich entsteht bestenfalls
eine Verbindung von Emotion und Willen zum eigenen Leben durch eine veränderte
Wahrnehmung.
Jetzt liegt der Schwerpunkt in der Suche nach der Bedeutung vom Zusammenhang von
Anfang und Ende, Geburt und Tod. Schon bei unserer Geburt findet eine Trennung von
unserer Mutter statt, die Ent-Bindung. Unser Lebensweg beginnt mit einem Abschied. Die
eigenen, späteren Erfahrungen müssen als Herausforderung angenommen werden,
Krisen und Schicksalsschläge zu meistern, Chancen und Veränderungen zu erkennen,
den Mut zu Endlichkeit bzw. Sterblichkeit zu entwickeln.
Bevor ich näher auf den zweiten Teil meines Vortrags die Vergänglichkeit eingehe, möchte
ich drei Zitate über das Abschiednehmen vorstellen.

1. Die Moderatorin, Journalistin und Autorin Christine Westermann gestaltete 20
Jahre lang zusammen mit ihrem Kollegen, dem Musiker und Sänger Götz Alsmann,
beim Westdeutschen Rundfunk die wöchentliche Fernsehshow „Zimmerfrei“ bis
2016. Später, befragt nach ihrem Urteil über diese Zeit, gab sie zu, mit Wehmut auf
diese Phase ihres Lebens zurückzublicken. Wörtlich: „Abschiede bewegen sich
zwischen der Furcht vor Veränderung und dem Mut zum Neuanfang.“

2. Der deutsch-österreichische Pianist und Dirigent Peter Kreuder , geb. 1905 in
Aachen, gest.1980 in Salzburg, komponierte 1936 einen seiner zahlreichen
Schlager nach einer Melodie von Johann Strauß (Sohn). Die letzte Strophe lautet: „
Sag ´ beim Abschied leise Servus, und gibt´s auch kein Wiedersehen, einmal war
es doch schön“.

3. Liedtext für eine freimaurerische Zusammenkunft von Robert Burns (1759-1796),
schottischer Nationaldichter, Freimaurer. Sein bekanntester Liedertext: „Auld Lang-
Syne“ (übersetzt: Die gute alte Zeit). Erste Strophe:“ Nehmt Abschied Brüder,
ungewiss ist alle Wiederkehr, die Zukunft liegt in Finsternis und macht das Herz uns
schwer.“ Refrain: „ Der Himmel wölbt sich übers Land. Ade, auf Wiedersehn. Wir
ruhen all in Gottes Hand. Lebt wohl, auf Wiedersehn.“
Es folgen Ausschnitte aus drei Gedichten.

1. Anette von Droste-Hülshoff: Abschied von der Jugend: „ …So an seiner Jugend
Scheide steht ein Herz voll stolzer Träume, blickt in ihre Paradiese und der Zukunft öde
Räume; seine Neigungen, verkümmert, seine Hoffnungen, begraben, alle stehn am
Horizonte, wollen ihre Träne haben. Und die Jahre, die sich langsam, tückisch reihen
aus Minuten, alle brechen auf im Herzen, alle nun wie Wunden bluten; mit der armen
kargen Habe, aus so reichem Schacht erbeutet, mutlos ein gebrochener Wandrer, in
das fremde Land er schreitet…“

2. Hermann Hesse: Gedicht „Stufen“, Das Glasperlenspiel 2, aus Josef Knechts
hinterlassenen Schriften. Die Gedichte des Schülers und Studenten: „… Es muss das
Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in
Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben . Und jedem Anfang
wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben…“

3. Erich Kästner, Gedichte 1950. „ Der Abschied“ : „Nun ich mich ganz von Euch löse,
hört meinen Epilog: Freunde, seid mit nicht böse, daß ich mich selber erzog! Wer sich
strebend verwandelt, restlos und ganz und gar, hat unselig gehandelt, wenn er nicht
wird, was er war!“ Variante zum „Abschied“: „ Ein Mensch, der Ideale hat, der hüte sich,
sie zu erreichen. Sonst wird er eines Tages statt sich selber andren Menschen
gleichen.“

II. Vergänglichkeit
Vergänglichkeit begegnet uns überall in unserem Alltagsleben, in der Natur und in unserer
Erinnerung. Gedanken über Anfang und Ende geben Aufschluss bei vielen Philosophen.
Vor allem jedoch ist entscheidend, dass wir bei uns selber, jeder für sich, damit beginnen,
nach dem Sinn menschlichen Lebens zu fragen. Oft neigen wir dazu, Gedanken an den
Tod auszuklammern und vom Erleben zu trennen. Im Laufe seines Lebens sollte im
Bewusstsein der Vergänglichkeit des Menschen auch die Einsicht stehen, sterben zu
lernen.
Der französische Historiker Philippe Ariès ( 1914 -1984) hat eine umfangreiche Geschichte
des Todes geschrieben. Er weist nach, dass fast 2 Jahrtausende lang von der Antike bis in
die frühe Neuzeit, der Tod ein vertrauter Begleiter und Bestandteil des Lebens gewesen
ist. Er spricht sich dafür aus, mit dem Tode zu leben, während des ganzen Lebens an
Todesnähe zu denken und nicht erst im Augenblick des Sterbens.

An diesem Punkt stehen wir vor der Aufgabe, über unser Denken nachzudenken. Eine
endgültige Antwort auf Überlegungen zu Vergänglichkeit und Abschied gibt es im
philosophischen Denken nicht, aber eine Annäherung an diese existenziellen Fragen der
eigenen Menschlichkeit. Der moderne Verstandesmensch sucht hier vergeblich nach
naturwissenschaftlich begründeten Erkenntnissen. Gedanken über Vergänglichkeit und
Tod sollten wir nicht als Bedrohung empfinden, sondern als Bedingung, unter der wir zu
leben haben. Besonders in diesem eigenen Lebensabschnitt wird die Fähigkeit des
Menschen, Leiden und Verletzlichkeit zu ertragen, auf eine harte Probe gestellt. Wir
befinden uns am Ende unseres Lebensweges in einer letzten Grenzsituation, die wir in der
Sterbephase überwinden müssen. In der Bibel, im Neuen Testament wird im Buch der
Psalmen über die Vergänglichkeit des Menschen in Psalm 90 (Absatz 12) verkündet:
(Herr) „ Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Während seines Lebens muß der Mensch ständig lernen, mit einer möglichen Störung
seines Wohlbefindens durch Krankheit, Enttäuschung, Verlust, Zweifel und Verwundung
umzugehen. Ein Mensch, der sich diesen Herausforderungen stellt und sie nicht als
Schwäche sieht, setzt seinen Mut ein und souveräne Entschlossenheit.

Eine zentrale Emotion menschlicher Erfahrung ist die Angst. Sie spielt eine entscheidende
Rolle im Umgang mit Grenzsituationen. Viele von uns haben einiges über das Sterben von
Mitmenschen, Verwandten, Freunden, Bekannten erfahren. Wir machen uns Gedanken
darüber. Vor der Erfahrung der eigenen Todesstunde bleibt jedoch Angst davor, das Leben
zu verlieren. Müssen wir uns davor fürchten?
Die Philosophin Ina Schmidt zitiert an dieser Stelle den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard mit seiner Schrift: Der Begriff der Angst, verfasst 1844.
Wir sollen der Angst mutig mit einem Sprung entgegen treten, sie bei
dieser Begegnung empfinden und lernen, sie auszuhalten. Die eigene Angst als ständige
Begleiterin zuzulassen ist eine wesentliche Existenzerfahrung für uns Menschen. Wenn
wir uns, mitten im Leben, als sterbliches Wesen verstehen und ernst nehmen, können wir
diese Erfahrung in der Endphase unseres Lebens anwenden. In diesem Sinn verfassen
wir zu Lebzeiten Testament, Patientenverfügung und Vorstellung zum Begräbnis. So
beruhigen wir die eigene Angst, finden etwas Trost bei den traurigen Gedanken über
unseren Tod.

Trauer entsteht im Moment eines Abschieds durch den Verlust bedeutender Momente in
unserem Leben im Bewusstsein von Vergänglichkeit. In Hermann Hesses
Aufzeichnungen „Wanderung“ stoßen wir auf das Gedicht „Vergänglichkeit“. Hier der
Anfang: „Vom Baum des Lebens fällt mir Blatt um Blatt. O taumelbunte Welt, wie machst
du satt, wie machst du satt und müd, wie machst du trunken! Was heut noch glüht, ist bald
versunken…“ Ein gläubiger Mensch kann Tost finden in seiner religiösen Überzeugung
beim Gedanken über Lebensende und Tod. Der ehemalige Professor für Theologie in
Tübingen und Priester, Gerhard Lohfink, geb.1934, ermutigt uns, den eigenen Tod
anzunehmen und ihm gelassen entgegenzugehen. Er schreibt: Zitat „ Im Tod versinkt alle
Zeit. Deshalb erlebt der Mensch im Durchschreiten des Todes nicht nur seine eigene
Vollendung, sondern zugleich die Vollendung der Welt.“

III. Das Alter
Ina Schmidt zitiert hier den Philosophen Friedrich Nietzsche mit seiner Schrift: „Die Geburt
der Tragödie“. Erst im Laufe seines Lebens, mit zunehmendem Alter habe er, Nietzsche,
an Lebensklugheit und den Blick für das Wesentliche gewonnen. Altwerden beinhaltet
das Loslassen von Zukunft. Der im fortgeschrittenen Alter befindliche Mensch hat
Abschied genommen von der Erlangung ständig neuer Möglichkeiten. Mit Blick auf die
kürzer werdende Lebenszeit ist er vielmehr bedacht auf die Erhaltung seiner bisher
gewonnenen Potentiale.

Der Prozess von Verlust und Wandel gewinnt besonders im Alter eine eigene Qualität. Die
Beurteilung schwankt zwischen Selbstzufriedenheit und Verzweiflung. Hilfreich bleibt,
sich im Alter einen Raum zu schaffen für Erinnerungen aus der Vergangenheit. Wir
gewinnen durch das bewusste, neue Erinnern eine lebenswerte Gegenwart. Durch diesen
Prozess werden unsere gesammelten Erinnerungen verinnerlicht.

Eine philosophische Lebenskunst zeichnet sich durch Tugenden aus, die sich vor allem
im Alter als nützlich erweisen. Bereits in der Antike werden sie bei Aristoteles und Seneca
benannt. Es sind dies Gelassenheit und Klugheit. Wenn wir versucht haben, uns in
beiden Tugenden lebenslang vorbildlich zu verhalten, ist uns die Fähigkeit verzeihen zu
können, nicht schwer gefallen. Die Bereitschaft, verzeihen zu wollen, ist bei uns
Freimaurern von besonderer Bedeutung. Sie zeichnet den Meister aus. Wir alle sind der
Vergänglichkeit ausgesetzt. Was bleibt ist die Hoffnung, am Ende einen neuen Anfang zu
finden von etwas, das wir noch nicht kennen.

IV. Schlussgedanken zu Abschied, Tod und Trauer
Die deutsche Kulturjournalistin und Autorin Karin Dzionara verfasste für die Sendung
„Glaubenssachen“ des Rundfunks NDR-Kultur ein Manuskript mit dem Titel: „Trostort und
mehr. Friedhofslandschaften als kulturelles Erbe.“ Die Sendung wurde am Sonntag, den
13.November 2022 ausgestrahlt. Dort konnten wir hören, dass Friedhöfe nicht nur Plätze
sind, die uns Abschied und Vergänglichkeit direkt vor Augen führen. Hinterbliebene suchen
dort nicht nur Trost in ihrer Trauer. Sie beziehen ebenso beim Friedhofsbesuch ihre Toten
in das alltägliche Leben mit ein. Zitat: „Werden und Vergehen, Leben und Tod, Trauer und
Trost – an Orten wie diesen können einem viele Fragen durch den Kopf gehen: Wer bin
ich, woher komme ich, was wird die Zukunft bringen? Und wo möchte ich selbst einmal
begraben sein“.
In Gedanken auf dem Friedhof wird das Grab zu einer Begegnungsstätte von Leben und
Tod. Hier hört der Besucher den, Zitat: „Klang der Stille“, wird seiner Endlichkeit bewusst
und Teil einer Trauerkultur. Die Verstorbenen zu begraben ist ein zentraler Akt der
Menschlichkeit. Totenkult bestimmt seit frühsten Menschengedenkens Kulturen und
Religionen. Wenn beim Abschiednehmen die Worte fehlen, können Grabstein, Lieder,
Gebete und Rituale am Grab Halt geben.

In unserer heutigen Zeit treffen wir auf einen versachlichten Tod und eine veränderte
Erinnerungskultur. Neue Formen des Gedenkens befinden sich im digitalen Raum in Foren
und Trauerportalen. Hinterbliebene sind vernetzt und erproben eigene Rituale. Die
Gestaltung von Tod und Trauer wird zu einem Bestandteil der eigenen Lebensphilosophie
und individueller Identität. Hören wir zum Schluss das von Karin Dzionara in ihrem
Manuskript erwähnte Vermächtnis des Literatur-Nobelpreisträgers und gläubigen Christen
Heinrich Böll. Kurz vor seinem Tod im Juli 1984 schreibt er die folgenden Zeilen an seine Enkeltochter:

„ Wir kommen von weit her, liebes Kind, und müssen weit gehen. Keine Angst, alle sind
bei Dir, die vor Dir waren. Deine Mutter, Dein Vater und alle, die vor ihnen waren. Weit
zurück. Alle sind bei Dir, keine Angst. Wir kommen von weit her und müssen weit gehen
liebes Kind.“