Moralischer Fortschritt, unverzichtbar in Krisenzeiten
I. Beginnen möchte ich mit einem Blick auf Handeln als moralischer Auftrag.
Was verlangt das von uns Menschen? Antwort: Dieses Handeln verpflichtet uns
zur Rechtfertigung auf der Basis eines Wertekonzepts. Moralisches Handeln
sollte sich an universalen Wertmaßstäben messen lassen.
Allgemeine Beurteilungsmaßstäbe bieten moralischen Grundregeln der Ethik.
Sie ist Teildisziplin der Philosophie und beschäftigt sich auch mit der Frage
worin ein gutes, moralisches und gelungenes Leben besteht.
Platon und Aristoteles stellen in diesem Zusammenhang ihre Glücks-und
Tugendlehre zur Charakterbildung des Menschen in den Mittelpunkt. Das
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland formuliert Werte mit
universalem Anspruch. Moral als Handlungsanweisung für das Tun eines
Menschen im Allgemeinen oder in einer gegebenen Situation vollzieht sich
nach Regeln, erlaubten Geboten oder Verboten. Die Idee einer
parlamentarischen Demokratie ist durch moralische Legitimität gerechtfertigt.
Der durch das Grundgesetz bestimmte Rechtsstaat legt Spielregeln der
Meinungsfreiheit, der Staatsangehörigkeit und der Grundrechte fest. Nicht jede
Minderheit verdient moralische Achtung, Moral geht vor Minderheit.
II. Wenden wir und jetzt den Kernfragen dieses Vortrags zu: Was ist
moralischer Fortschritt und was wird von uns verlangt in Krisenzeiten?
Ein unbeschwertes, „normales“ Leben auf einer ethischen Wertgrundlage zu
führen ist für die meisten von uns immer wieder eine Herausforderung. In
Krisenzeiten werden an uns noch viel größere Erwartungen gestellt, die oft mit
unliebsamen persönlichen Einschränkungen verbunden sind. Dabei meine ich
nicht nur die Herausforderungen an Einzelne in persönlichen Lebenskrisen,
Krankheiten und anderen Schicksalsschlägen. Die Bedeutung universaler
Werte soll im Folgenden hervorgehoben werden. Sie gelten für alle Menschen
und sind Voraussetzung moralischen Urteilens in komplexen Situationen. Der
Mensch ist von Natur aus weder gut noch böse, sondern frei. Moralisch haben
wir die Freiheit, das Richtige oder das Falsche, das Gute oder das Böse zu tun
oder uns neutral zu verhalten.
Einige Philosophen haben im Fortschritt der Menschheit eine selbst
stattfindende Entwicklung des einzelnen Menschen zum Höheren, Besseren
und Vollkommeneren gesehen.
Jean Jaques Rousseau hebt den sozialen Fortschritt hervor mit dem Gedanken
an den natürlichen inneren Sinn für das Beste der Gesamtheit (volonté
générale).
Sein Zeitgenosse Marie Jean Antoine de Condorcet (1743-1794) vertritt die
politisch-historische Aufklärung in Frankreich noch konsequenter. Er glaubt an
eine praktisch unbegrenzte Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung.
Diese erfährt nur durch die physischen Umstände des Erdenlebens
Einschränkungen.
In seiner Moralphilosophie sozialen Fortschritts stellt Immanuel Kant mit dem
„Kategorischen Imperativ“ einen hohen Anspruch an die Menschheit. Unser
moralisches Handeln soll einen kollektiven und einen individuellen Aspekt
berücksichtigen. Alle Menschen sind aufgerufen am Guten teilzuhaben, der
einzelne Mensch in seiner Person sein handlungsleitendes Interesse an einer
universalen, moralischen Beziehung zur gesamten Menschheit auszurichten.
In der kritischen Theorie der Frankfurter Schule erklären die Philosophen Max
Horkheimer ,Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse gesellschaftliches
Verhalten im „humanistischen Materialismus“ als sozialen Fortschritt. Ziel
dieser Wirtschaftsform ist es, die ökonomische Ausbeutung der Menschheit zu
beenden durch Aufhebung der Klassenherrschaft. Es gilt, Selbstbestimmung
und Menschenwürde durch Vernunftbewußtsein zu verwirklichen.
Moralischer Fortschritt ist ein ewiger Prozess mit der ständigen Aufforderung,
das Richtige zu tun und das Falsche zu unterlassen. Als moralisches Lebewesen
kann der Mensch Gefühle entwickeln, die für ethisches Handeln eine
entscheidende Rolle spielen. Ethik und Moral unterliegen einem Bewußtsein,
das auf sinnlicher Erkenntnis beruht. Weltweit existieren unterschiedliche
Werte und moralische Tatsachen. Menschlicher Wille unterliegt in konkreten,
vielschichtigen Lebenssituationen oft ungewissen Bedingungen einer
verborgenen Moral.
Im politischen Bereich verweist Marcus Gabriel darauf, daß wir lange Zeit
moralischen Fortschritt einer aktiven Identitätspolitik verdankten. Moralisch
verwerflich ist jedoch das Denken in nationalstaatlichen Grenzen. Besonders
die weltweiten Krisen des 21.Jahrhunderts verlangen eine veränderte Sicht auf
universale Werte.
Heutiger moralischer Fortschritt verlangt jedoch die Überwindung früherer
Identitätspolitik. Der Universalismus der neuen Aufklärung lehnt die Sortierung
von Menschen in identitäre Gruppen ab. Auch die Covid-19 Pandemie hat uns
drastisch vor Augen geführt, daß alle Ressourcen begrenzt sind. Moralisch
richtiges Verhalten gegenüber anderen sollte in dieser Krisensituation
stereotypfrei stattfinden. Toleranz und Nachsicht sind nur ein Schritt in diese
Richtung, der aber nicht ausreicht.
Globaler Kapitalismus, Klimakrise, soziale Ungleichheit, Hunger, Armut,
kriegsähnlicher Wettbewerb zwischen Großmächten, Krieg als Mittel zur
Machtpolitik, Flucht und Vertreibung zeigen uns täglich Not und Elend unserer
Mitmenschen auf. Zur Bewältigung der Probleme in der heutigen Zeit muß die
Menschheit eine globale Kooperation auf der Basis universaler Werte
anstreben.
Moralischer Fortschritt verlangt auch die Bekämpfung von Rassismus. Die
Lebensweisen der Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert sind verflochten. Der
Rückzug auf individuelle Heimatgefühle als Wertquelle ist schädlich. Ebenso
wie die Sortierung von Menschen in Gruppen zu denen sie nicht von Natur aus
gehören. Das digitale Zeitalter produziert falsche Formen einer
Identitätspolitik.
Zum universalen Wert des 21.Jahrhunderts gehört vielmehr der Mut, eine
wertbezogene Wahrheit in Kommunikation und Umgang mit einander zu
pflegen. Wahrheit darf nicht durch Gruppendenken ersetzt werden. Eine
Tatsache ist eine Wahrheit. Moralische Tatsachen sind moralische
Wahrheiten. In der Realität gibt es nicht den von Parteien, sozialen
Netzwerken , Verbänden und anderen, sozialpolitischen, aktiven Gruppen zu
ihrer Rechtfertigung verbreiteten gesamtgesellschaftlichen Normalzustand.
Dieser Populismus produziert ein imaginäres, verzerrtes Bild unserer
Gesellschaft.
Der Mensch als geistiges Lebewesen in einer moralischen Gemeinschaft steht
im Mittelpunkt des moralischen Fortschritts. Dieser Mensch ist sich seiner
geistigen Fähigkeit bewußt, wendet sie an und bestimmt sich selbst. Er
versucht, die verschieden Identitäten zu verstehen, toleriert sie und
überwindet einzelne Selbstidentifikation.
Die Geisteswissenschaften sollten in der neuen Aufklärung des 21.Jahrhunderts
neu positioniert werden. Alle Menschen müssen ein Recht haben auf ethische
Ausbildung und Teilhabe an öffentlichen, philosophischen Debatten, jenseits
der Politik.
III. Zusammenfassung
Moralischer Fortschritt im 21.Jahrhundert setzt voraus, daß wir moralische
Tatsachen erkennen und für die Gestaltung einer besseren Zukunft nutzen.
Soziale Medien und künstliche Intelligenz sind mit Vorsicht zu genießen wegen
ihrer digitalen Verzerrung unserer Wirklichkeit. Durch Pandemie bedingtes
„home office“ kann ein digitales Proletariat entstehen. Profiteure sind
ausländische Digitalmonopolisten. Sie leben von Lizenzverkäufen und
Datenströmen. Wahrscheinlichkeitsrechnungen, Computergestützte Prognosen
und Statistiken sind nicht aussagekräftig genug für die Zukunft. Moralische
Werte dürfen nicht den ökonomischen Werten untergeordnet werden.
Primat der Marktwirtschaft und ökonomische Globalisierung haben in den
letzten 30 Jahren nicht zu moralischem Fortschritt geführt. Durch die
Zerstörung des Ökosystems verlieren wir mehr Wert, als wir erzeugen. Eine
moralische Form des Wirtschaftens ist in einer humanen Marktwirtschaft
möglich, deren ökonomische Modelle sollten sich auf den Erkenntnissen der
Ethik als Grundlagendisziplin entwickeln.
Das setzt ein neues Wohlstandsverständnis voraus durch Verzicht auf
Konsumgüterzwang,. Massentourismus, Geld- und Güteranhäufung,
Kapitalismus in Hochgeschwindigkeit und Umweltzerstörung. Altruistisches
Handeln aus Einsicht liefert die Grundlage für gerechten Wohlstand. „Jeder ist
der andere eines anderen.“ Als moralisch gilt ein Wesen, das sich imstande
zeigt, frühere und zukünftige Handlungen oder Motive zu vergleichen, sie zu
billigen oder zu verwerfen.
Die neue, auf moralischem Fortschritt gegründete Aufklärung im
21.Jahrhundert setzt sich ein für eine globale Kooperation in den
Wissenschaften. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland gilt als ethische
Analphabeten. Deshalb ist es notwendig, daß Philosophie und Ethik im
Bildungssystem des moralischen Fortschritts zum schulischen Pflichtfach für
alle werden, unabhängig von Schulform, Religion, Herkunft, Vermögen,
Geschlecht und politischer Meinung des Einzelnen. Philosophie und Ethik
erheben den Anspruch der Wahrheitsfindung. Ziel und Sinn menschlichen
Lebens ist die Gestaltung eines guten Lebens, das zu verantwortungsvoll
handelnden Personen führt und uns als Lebewesen kennzeichnet, die zu
höherer, universaler Moralität fähig sind.