Der Wanderer – Der Weg zur inneren Uhr
Sehr geehrte Gäste, geliebte Brüder,
mein Vortrag trägt den Titel „Der Wanderer – auf dem Weg zum inneren
Kompass“.
Und es gehen die Menschen,
zu bestaunen die Gipfel der Berge
und die ungeheuren Fluten des Meeres
und die weit dahinfließenden Ströme
und den Saum des Ozeans
und die Kreisbahnen der Gestirne,
und haben nicht acht ihrer selbst.“
Aurelius Augustinus (354-430)
Die Begrifflichkeit „Wandern“ wird laut Wikipedia wie folgt beschrieben:
„Man unterscheidet zwischen zweckfreiem und zweckgebundenem Wandern.
Zweckfreie Wanderungen dienen dem Selbstzweck, der Erbauung oder
Ertüchtigung, während zweckgebundenes Wandern früher Gründe hatte wie
Forschung, Arbeitssuche, Walz, Flucht oder Handel oder in weiterem Sinne
militärische Märsche.“
Abgeleitet aus einer für Deutschland repräsentativen Befragung ergibt sich für das
zweckfreie Wandern in Abgrenzung zum Spazierengehen folgende nachfragebasierte Definition:
Wandern ist Gehen in der Landschaft. Dabei handelt es sich um eine
Freizeitaktivität mit unterschiedlich starker körperlicher Anforderung, die sowohl
das mentale wie physische Wohlbefinden fördert. Charakteristisch für eine Wanderung sind:
eine Dauer von mehr als einer Stunde,
eine entsprechende Planung,
Nutzung spezifischer Infrastruktur sowie
eine angepasste Ausrüstung“
– Deutscher Wanderverband (2010)
Als erster historisch dokumentierter „zweckfreier“ Wanderer gilt der Italiener
Francesco Petrarca, der 1336 mit seinem Bruder den etwa 1900 m hohen Mont
Ventoux bestieg. Über viele Jahrhunderte nach ihm sind nur wenige weitere
Wanderungen dieser Art dokumentiert.
An sich vermeide ich Verweise von Wikipedia. Hier habe ich mich allerdings
dafür entschieden, da diese Internetseite gegenwärtig häufig als erste Quelle
herangezogen werden. Sie wird damit zur ersten Anlaufstelle für Interessierte und
Suchende – wonach auch immer.
In Bezug auf Francesco Petrarca, gewissermaßen als vielfach angeführter
Begründer des Alpinismus, ist ein Jeder dazu aufgefordert, selbst auf Spurensuche
von dessen Absichten zu gehen. Auch die Darstellungsform und der fiktionale
Charakter der Narration seien hier nur erwähnt. Mir geht es vielmehr um den
Diskurs, die eigene Suche und Wanderung.
Warum wandern wir?
Was zieht uns hinaus in die Ferne, in die Höhe, fernab von unserem alltäglichen
Tun? Ist es ein „Einfach-mal-`rauskommen“, dem Alltag entfliehen, eine kleine
Flucht vor den Dingen, die sonst auf einen warten, in Beschlag nehmen, fordern
oder unter Druck setzten? Ja. Das sei damit vielleicht schnell beantwortet. – Aber,
ist es das, was wir innerlich wollen und suchen?
Vielleicht muss die Frage anders gestellt werden:
Was möchte ich sehen, woher komme ich und wo zieht es mich hin?
Vor allem: Wie möchte ich zurückkehren, als was oder wer und warum so?
Als sich mir vor ein paar wenigen Jahren die Gelegenheit bot, zum ersten Mal, sich
auf in die Berge zu machen, für eine mehrtätige Hüttenwanderung, hochalpin
unterwegs zu sein, habe ich spontan zugesagt. Voller Euphorie und Tatendrang
hatte ich mich früh mit den notwendigen Vorbereitungen auseinandergesetzt. Dass
es eine intensive Vorbereitung bedarf, war mir schnell bewusst, was ich zu erleben
und entdecken vermochte, offenbarte sich mir indes erst viel später.
Ein großer Rucksack, Kleidung für unterschiedliche Wetter- und
Tempertaturbedingungen waren schnell besorgt – naja, natürlich nach eingehender
Recherche. Auch eine Packliste half, die notwendigen Dinge und Utensilien nicht
zu vergessen und sich auf das Wesentliche zu reduzieren. Das Wichtigste war
jedoch das Schuhwerk. Diese müssen für alle gängigen Geländeformen gemacht
sein – egal, ob ein ausgetretener Pfad, eine nasse Wiese, bei Schlamm, Geröll,
Felsen oder Eis.
Plötzlich ging es los. Wir waren zu dritt. Zwei erfahrene Wanderer und Bergsteiger
und ich – in der Mitte. Zunächst war alles einfach und leicht. Wir unterhielten uns
und erzählten von unserem Alltag, unserer Arbeit, unseren Familien und den
jüngsten Ereignissen. Das ging eine ganze Weile so. Wir hatten viel Spaß
zusammen und nahmen unsere Umgebung kaum wahr. Wir waren uns einig, es gut
mal rauszukommen.
Nach einer Weile schienen wir eine Pause zu gebrauchen. Soll ich es jetzt
vorschlagen? Eigentlich kann ich noch etwas. Die anderen wissen schon, wenn es
an der Zeit ist. Meine Gedanken fingen an, sich um mich und um meine
Verfassung zu kreisen: Die beiden schienen gar keine Rast mehr einzulegen.
Wollen sie mich herausfordern, mich als Neuling auf dem Gebiet? Nein, ICH halte
durch. „Halt“, rief einer der beiden, der vorausgegangen war, um sich umzusehen.
Ich erschrak innerlich und war zugleich froh. „Hier ruhen wir uns aus. Da vorne
wird es schwierig, und es ist nah am Abgrund.“ Wie sich später herausstellte, war
den beiden die Situation vollkommen bewusst. Sie hatten dies bereits selbst bei
sich erlebt und daraus gelernt.
Bei der schwierigen Etappe ging ich wieder in der Mitte. Ich sah den Tritt meines
Vordermannes und bekam den nötigen Halt vom Hintermann. Sie stützten mich
und gaben mir das Vertrauen, das ich selbst von mir noch nicht einmal kannte.
Der schwierigste Teil stand uns noch bevor, eine lange Leiter hoch, ein paar Meter
über einen schmalen Grat, rechts und links ging es über 500 Meter bergab. Die
Leiter war feucht und rutschig, noch drei Meter. Da war ich an der Reihe. Ich war
oben auf über 2.500 Meter Höhe. Jetzt bloß nicht den Halt verlieren. Ich war nur
wenige Meter von einem kleinen Plateau entfernt. Da war bequem Platz für drei
bis vier Personen gleichzeitig, rings umgeben von etwas höheren Felsen, die einem
zusätzliche Sicherheit vermittelten. Die Aussicht schien dort unendlich weit zu
sein. Für einen kurzen Augenblick sah ich nach unten. Mir wurde sofort
schwindelig. Meine Beine wurden schwer. Mir war so, als ob sie eins wurde mit
dem Berg. Ich konnte nichts mehr sehen.
Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Sie wirkte vertraut und führte mich.
Sie gab mir das Licht, das mir fehlte. Ich stand auf, blendete den Abgrund rechts
und links aus und begab mich auf die Gratwanderung. Anfangs waren meine Beine
noch wackelig, dann hielt ich die Balance und fokussierte entschlossen mein Ziel.
Ich nahm die Umgebung jetzt bewusst wahr, und ich entdeckte meinen inneren
Kompass. Was war mit mir geschehen?
War es die Wanderung, die Suche danach, dem profanen Alltag für einen Moment
zu entfliehen. Ich machte mir zunächst keine weiteren Gedanken, sondern genoss
das gerade Erlebte. Ich erfreute mich an der Aussicht und schloss innerlich mit den
Dingen ab, die hinter mir lagen. Noch nie zuvor war ich so weit oben, hatte eine so
weite Sicht – über die die Berggipfel, die grünen Wiesen bis hinunter ins Tal. Wie
klein die Dinge und Probleme jetzt wirkten. Ich atmete tief durch. Innerlich füllte
sich alles mit einer wohligen Wärme und einem Bewusstsein mir selbst gegenüber,
was ich bislang nicht kannte.
Nun lag ein weiterer Abschnitt vor uns. Wir mussten uns sehr konzentrieren, da es
steil bergab ging. Ich hielt mich nah am Felsen. Die Blicke waren von nun an auf
jeden einzelnen Schritt und Tritt vor uns gerichtet. Es waren die kleinen Schritte,
die zählten. An den Stellen, wo der Felsen noch schroff und rau war, konnte ich
mich gut halten. Nach einer Biegung frischte es plötzlich auf. Hinzu kam, dass wir
uns nur an einem Seil festhalten konnten. Unter uns ein schmaler Steg. Wir waren
den Elementen völlig ausgesetzt. Der Wind peitschte uns ins Gesicht. Wir mussten
uns gegenseitig Halt geben, indem wir uns jeweils eine Hand reichten. So gelangen
wir sicher auf die andere Seite. Es klärte wieder auf. Schon konnten wir unsere
Unterkunft für heute von Weitem aus sehen. Wir sahen kleine Säulen, die
Wanderer vor uns mit Steinen gestapelt hatten. Diesem Ritual nahmen wir uns
gleich an. Es war gar nicht so leicht, die richten Steine dafür zu finden. Vielleicht
mussten wir sie woanders suchen, sie richtig behandeln oder sie uns finden lassen.
Wir kehrten nun ein und freuten uns auf einen geselligen Abend.
Sehr geehrte Gäste, geliebte Brüder, mein Vortrag ist beendet.