Erster Teil, 1.- 4. Helmut Franz
1. Praktische Philosophie führt uns alle Aspekte menschlichen Handelns vor Augen.
Fragen der Ethik stehen dabei im Mittelpunkt.
Konkret heißt das, was ist in diesem Zusammenhang gut bzw. was sollen wir als einzeln handelndes Individuum tun.
In der Geschichte der Philosophie begegnet uns der Begriff Vernunft dabei in vielfältiger Form zum Beispiel bei Platon, Aristoteles, Kant, Leibniz, Schopenhauer, Horkheimer, um nur einige Philosophen zu nennen.
In der Praktischen Philosophie der heutigen Zeit nimmt der Begriff Rationalität eine zentrale Position ein bei der Beurteilung menschlichen Handelns.
Eine rational geprägte Person wägt ab, welche Handlungsoptionen es gibt und welche Gründe dafür oder dagegen stehen.
Das Modell einer Gründe geleiteten Handlung, die sich nur auf Urteil, Gedanken oder Erfahrung bezieht, ist eher realitätsfern.
Im gelebten Alltag treffen wir viel häufiger auf individuelle Entscheidungen, die auf einer zielgerichteten Rationalität beruhen, um angestrebte Ziele bestmöglich verwirklichen zu können. Das so orientierte Individuum erwartet den größten, subjektiven Nutzen.
Oft handeln wir Menschen auch kooperativ.
Gemeinsames Handeln stellt eigene Interessen zurück zugunsten einer Handlungskombination, um wechselseitige Kooperationserwartungen zu erfüllen.
Die in kollektiver Rationalität ausgeübten Handlungen sind unverzichtbar im demokratischen Entscheidungsverfahren.
Wenn wir zu der Einsicht gelangen, daß kooperatives Handeln vernünftiger ist und wir uns gegen die Optimierung eigener Interessen entscheiden, begeben wir uns philosophisch auf das Gebiert der Strukturellen Rationalität.
Dieses Handeln enthält viele praktische Gründe. Es auf einige richtige Forderungen zu reduzieren entspricht nicht dem Denkmodell des Rationalismus der Praktischen Philosophie.
Hauptsächlich findet strukturelle Rationalität in folgenden Kategorien statt: Verpflichtungen nach Versprechungen, Vereinbarungen in Verträgen, in spezifischen Pflichten, in Aufforderungen, welche durch Verbundenheit mit anderen darum bittenden Personen bestehen, in Rechten und Freiheiten aller Menschen, in Solidarität, Wohlwollen und Mitleid, im Interesse für das eigene Wohlergehen und letztlich auch in unveränderlichen Prinzipien und Regeln der Moral.
2.Angewandte Ethik in der Praktischen Philosophie Hier handelt es sich um eine normative Ethik.
Sie ist kein ideales System, sondern eine Auffassung in der die Vernunft eine wichtige Rolle spielt. Menschliches Handeln unterliegt moralischen Leitgrundsätzen, keinen puritanischen Verboten. Der universale Aspekt dieser Ethik verlangt vom Menschen, daß er über das Ich und Du hinausgeht in seinen moralischen Überzeugungen und Taten. Außerdem stehen im Mittelpunkt der angewandten Ethik, die der australische Philosoph Peter Singer als praktische Ethik versteht, Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen, behutsamer Umgang mit unserer natürlichen Umwelt, die Beachtung des Tierwohls, Sorge für Bildung und Forschung, Übernahme von Verantwortung in der Beurteilung neuartiger Möglichkeiten in Technik und Medizin und Fragen von Leben und Tod. Der deutsche Philosophieprofessor für praktische-, politische-, Sozial- und Rechtsphilosophie Otfried Höffe weist darauf hin, daß angewandte Ethik heute weltweit betrieben wird in Technik, Wissenschaft, Medizin, Umwelt, Wirtschaft, Energie bis hin zur Tierethik, Rechts-, Staats- und Friedensethik.
Besonders aus Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen muß unsere Gesellschaft die Moral als Zitat „Preis der Moderne“ anerkennen. Angewandte Ethik kann utilitaristisch (=nützlichkeitsorientiert), kantianisch, als pragmatische Handlungsethik im Sinne von Kants moralischer Verpflichtung, oder tugendethisch im Sinne der Nikomachischen Ethik von Aristoteles, gelebt werden. Allgemein gelten folgende Kriterien: Personen haben individuelle Rechte auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts, es gibt bestimmte Pflichten gegenüber Schwächeren und Abhängigen, von Eltern gegenüber ihren Kindern, Pflichten der Gesellschaft gegenüber unverschuldet in Not geratenen Menschen.
Moralische Überzeugungen unterliegen zur Bewährung der Verpflichtung einer Anwendung im Lebensalltag. Moralische Überzeugungen von großer Allgemeinheit dürfen im Fall von Konflikten nicht aufgegeben werden.
3.Ethische Lebensform
Der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger (Lebensdaten 1882-1963) definiert Lebensform als gedanklich entworfene Struktur des individuellen Bewußtseins, die als Wert das Leben bestimmt. Die persönliche Lebensform prägt den Charakter eines Menschen, entwickelt Kriterien, die Glück erwarten lassen. Der schon erwähnte Philosoph Otfried Höffe setzt sich ausführlich mit dem Begriff Lebensform auseinander.
Sie kann kulturspezifisch bestimmt sein, tugendhaften Lebensstil verwirklichen, Universalismus befürworten, zu Besonnenheit, Gelassenheit und Selbstvergessenheit führen oder Lustgewinn verschaffen und sich auf Macht, Wohlstand und Ansehen beschränken. Menschen, die nach moralischer Freiheit streben, Verzicht üben, Autonomie ausstrahlen, praktische Vernunft anwenden, wollen dagegen eher Handlungs-und Willensfreiheit gewinnen.
Aristoteles beschreibt in seiner Nikomachischen Ethik vor allem drei Lebensformen: Die Lust als sinnlichen Genuß, die politische Tüchtigkeit und das zweckfreie Forschen und Erkennen durch Betrachtung. Für Aristoteles ist dem Wesen des Menschen angemessen ein politisches, mit Ehre behaftetes und durch Tüchtigkeit gekennzeichnetes Leben. Durch die betrachtende Erforschung seines Daseins erkennt der Mensch seinen Lebenssinn in Tugend und wissenschaftlichem Denken. Ziel allen menschlichen Tuns ist, Glückseligkeit zu erreichen. Edle Taten erwachsen aus Tugend und Vernunft. Sie beruhen nicht auf Macht und sinnlichem Lustgewinn.
Höffe setzt sich kritisch mit der aristotelischen Tugendethik auseinander. Er hebt hervor, daß Besonnenheit, Wohlwollen und Nächstenliebe zu innerer Freiheit führen. Innerlich frei ist, wer unbefangen zu handeln versteht. Autonome Moral und Lebenskunst stehen in keinem Gegensatz. Ethische Lebensform auf der höchsten Stufe der Moralität sollte verstanden werden als Überzeugung gezeigter Selbstachtung, im Bewußtsein, ein moralisches Wesen zu sein aus Pflicht gegen sich selber.
Aus der Menschenwürde, wie Höffe sie beurteilt, entsteht diese besondere Vollkommenheitspflicht, die Pflicht zur moralischen Selbstschätzung. In der von sich selbst eingeforderten Moralität versucht der Mensch Selbstzufriedenheit , sinnvolles Leben, Gefallen an seinem Dasein, Glück und Wohlgefallen zu finden.
Vollkommenes Glück kann er in irdischer Wirklichkeit nicht erreichen, aber ein gewisses Maß an Glück bei Ausübung moralischer Vernunft in moralischer Selbstachtung.
Auf der Suche nach der eignen ethischen Lebensform stellt uns die Praktische Philosophie heute normatives Orientierungswissen zur Verfügung für vielfältige, alltägliche Handlungssituationen. Gleiches gilt für deskriptives Orientierungswissen, das sinnliche Eindrücke analysiert. Beide Formen des Orientierungswissens bestimmen unser alltägliches Handeln und Urteilen, verbunden mit fundamentalen Überzeugungen.
Normatives Orientierungswissen ist weitgehend unabhängig von ethischen Theorien, es ist auch ohne Ethik denkbar, wie der deutsche Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin für Praktische Philosophie und ehemaliger Staatsminister für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, in seinen Veröffentlichungen unter anderem über strukturelle Rationalität und angewandte Ethik ausführt. Nida-Rümelin wendet sich gegen die Auffassung seiner meisten zeitgenössischen Ethik-Philosophen, daß wir, bedingt durch die Säkularisation, in einer Zeit moralischer Krisen leben. Moderne Moral wird bei ihm unabhängig von Glaubensinhalten erklärt, ohne religiöses Fundament. Ein heutiges moralisches System besteht im Ansatz auch aus Abwägungen bzw. praktischen Überlegungen.
Jede moralische Überzeugung kann in Konflikt geraten, eine Begründung ist immer relativ, ohne absolute Gewissheit. Es gibt keine Krise der Moral, sondern eine Krise der ethischen Theorie als Folge einer missverständlichen, rationalistischen, auf absoluter Gewissheit bestehenden(= zertistischen) Begründung moralischer Normen.
Individuelle Interessen spielen bei der Moralbegründung eine wichtige Rolle. Die moralische Motivation des einzelnen Menschen beruht auf dem Bewußtsein, aus guten Gründen zu handeln. Eine Handlung aus moralischer Motivation, aus guten, praktischen, vernünftigen Gründen, die unsere Lebensform bestimmen, geben unserem Leben Sinn und bringen uns in die Nähe der Tugendethik des Aristoteles.
In der praktischen Philosophie stehen autonomes Handeln, Menschenwürde, Selbstachtung und ein Individualismus, der kooperative Intentionen nicht ausschließt, an zentraler Stelle in der Wertbestimmung eines moralisch, ethischen Lebens.
4.Philosophie und Globalisierung. Ein Ausblick des Philosophen Otfried Höffe.
Dieser zitiert seinen Kollegen Ludwig Wittgenstein (Lebensdaten 1889-1951), bedeutender Philosoph der modernen, analytischen Philosophie, Zitat: „Man kann in gewissem Sinn mit philosophischen Irrtümern nicht vorsichtig genug umgehen: Sie enthalten so viel Wahrheit.“ Gedanken eines moralisch guten Lebens, eines gerechten Gemeinwesens, zum Völkerrecht, zu Menschenrechten gehen auf Philosophen zurück.
Ein Philosoph versteht sich als, Zitat nach Kant: „Anwalt einer allgemeinen Menschenvernunft“, Schon die klassische, griechische Philosophie gewinnt früh globale Aufmerksamkeit.
Die umfassende Globalisierung unserer Zeit verlangt vom Weltbürger, alle Kulturen in ihrer Besonderheit ernst zu nehmen und über Tradition und Erfahrung kulturspezifischer Philosophie nachzudenken.
Damit sich das kulturelle Erbe der Menschheit zu einer kosmopolitischen „Philosophie der einen Welt“ entwickelt, müssen Antworten gefunden werden auf folgende Fragen:
Wie kann der einzelne, wie können Gruppen und größere Gemeinwesen ein gutes und gerechtes Leben führen? Wie lassen sich globale Kräfte aus Wirtschaft, Technik und Forschung in das Leben einbeziehen und auch deren negative Auswirkungen bewältigen? Wie kann eine gerechte Weltordnung aussehen?
Philosophen denken über gemeinsame Strukturen nach, deren Sinn und über Qualitätskriterien der Wissenschaften. Sie helfen bei der Findung neuer Identität und Integration. Als Vertreter der ältesten Geistes- und Kulturwissenschaft ist es ihre Aufgabe, das kulturelle Erbe der Menschheit am Leben zu erhalten und es immer wieder neu zu vergegenwärtigen. Neben dieser Dienstleistung liegt die „weltbürgerliche Bedeutung“ der Philosophie, wie sie Kant versteht, in der Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Menschheit: Was kann man wissen, was kann man tun, was soll man hoffen? Hierzu finden wir keine endgültigen Antworten. Auf der Suche der Philosophen nach diesen Antworten steht die Absicht, menschliches Wissen zu einer gewissen Vollendung zu bringen.
TEIL 2
Liebe Gäste, liebe Brüder,
Helmut sprach über die praktische Philosophie und darüber, wie ein starkes Individuum, das sich selbst achtet und entwickelt, erst in der Lage ist, andere zu unterstützen – sei es durch Nächstenliebe, Solidarität oder kooperatives Handeln.
Es wurden ein paar Checkpunkte angesprochen:
behutsamer Umgang mit unserer natürlichen Umwelt, Sorge für Bildung und Forschung, Übernahme von Verantwortung, Vernünftig sein.
Doch sind wir schon so weit? Sind die Menschen, dank der ach so schönen Aufklärung, der schillernden Demokratie, der immer verfügbaren Nachrichten starke Individuen geworden, die ein Netz der Nächstenliebe spannen? Wir müssen noch kein Elysium errichtet haben, aber fördern wir denn diese Dinge überwiegend?
Wenn wir uns umschauen, sollte man denken: JA! Immer mehr Menschen setzen sich für die Umwelt ein. Immer mehr Menschen werden laut. Klimaschutz, Tierschutz, Nächstenliebe ist in aller Munde, auf jeder Agenda!
Schauen wir auf die Zahlen, können wir nur staunen. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Umweltzerstörung hat zugenommen, Fleischkonsum global auch, manche Medien attestieren uns politisch gar Weimarer Zustände! Eine Zerrissenheit wie lange nicht mehr.
Was die Umwelt angeht, kein Wunder. Selbst wenn wir annehmen würden, dass wir im Westen wirklich etwas für den Klimaschutz tun würden, so sind doch hunderte Millionen Menschen in den letzten Jahren über die Schwelle der Armut nach oben geklettert. Diese Menschen fordern (zurecht?) das ein, was wir die letzten Jahrzehnte genossen haben. Das negiert unsere Bemühungen komplett. Ich stellte die Frage schon einmal auf einem Bruderabend: Wer meldet sich freiwillig, diese Menschen zurück in die Slums zu schubsen?
Also. Woran liegt es, dass wir soviel angebliches Engagement sehen, die Zahlen aber etwas anderes sagen?
Sehen wir uns etwas um, dann bemerken wir etwas sehr beunruhigendes. Wir sehen das Gegenteil von Menschen, die Verantwortung übernehmen. Keine starken Individuen.
Wir sehen die Illusion von Taten, gemischt mit Eskapismus.
Manche Brüder werden jetzt innerlich die Augen verdrehen, weil es eines meiner Lieblingsthemen ist. Aber besonders als Freimaurer wissen wir, wie wichtig das ständige Wiederholen ist, um bleibende Spuren zu hinterlassen.
Wir sind heute schnell dabei, “ein Zeichen zu setzen”. Ein Beitrag ist schnell geteilt, eine Plattitüde schnell getippt.
Doch was erreichen wir damit wirklich? Viel zu oft ist es nicht die Welt, die wir verändern wollen – sondern nur unser eigenes Gefühl. Wir wollen uns selbst versichern, dass wir gute Menschen sind, dass wir auf der „richtigen“ Seite stehen.
Es ist so bequem: Man teilt einen Post, hebt vielleicht eine Faust, schreibt einen Kommentar.
Das arme Katzenbaby Schnuffel ist entlaufen, wir müssen jetzt alle zu… Oh der Bachelor läuft. Haha, der Typ ist ja fett. Wie witzig…. Wo war ich? Ach egal.
Das Bedürfnis, etwas zu tun, wird befriedigt – und das alles vom sicheren Sofa aus.
Natürlich gibt es auch Leute, die raus gehen, weil sie (angeblich) etwas bewirken wollen.
Aber auch sie wählen den sicheren Weg. Sie kleben sich auf die Straße in Deutschland, sie kippen Suppe auf ein Gemälde. Gut, was kann ihnen passieren. Ne kleine Geldstrafe, vielleicht ein paar Sozialstunden.
Aber sie riskieren, gemessen am Ernst ihrer Gründe für diese Taten, nichts.
Ich würde niemals behaupten, dass ein strategisch platzierter Sprengkörper am Privatjet eines Ölbarons mehr bewirken würde. Nichts läge mir ferner! Obwohl… wenn gerade keiner drin sitzt…
Wie auch immer.
Die Welt da draußen, die echte Welt, bleibt jedoch unangetastet. Das Böse, die Ungerechtigkeit, die Missstände – all das bleibt bestehen.
Und dann passiert etwas Entscheidendes:
Diese Menschen gehen hinaus in die Welt und stellen fest, dass sich nichts geändert hat. Sie verstehen es nicht. In ihrer kleinen Welt aus geteilten Beiträgen und zustimmenden Likes ist doch alles voller „guter Menschen“. Wieso ist die Welt also immer noch so ungerecht, so grausam, so chaotisch?
Diese Kluft zwischen der Illusion des Guten und der Realität der Welt wird für viele zu einem unerträglichen Widerspruch. Sie führt zu Resignation, Frustration und nicht selten in die Depression. Wir haben gelernt, uns hinter Symbolen zu verstecken – anstatt diese Symbol als Aufruf zur TAT zu verstehen.
Oder noch schlimmer. Die Social-Media-Algorithmen haben gelernt, dass sich Hass besser klickt. Jetzt ist also auch noch ihr einziger Rückzugsort entweiht worden. Selbst dort platzt ihre Bubble und sie bekommen vermehrt Beiträge der “Gegenfraktion”. Katsching, da geht der Aktivitätenindex nach oben.
Die kleinsten Dinge werden aufgeblasen. Es ist nicht mehr rational. Wir können die Geschehnisse nicht mehr einschätzen, werten und sie so vernünftig beurteilen.
Wir haben das Nachdenken abgegeben. Mal wieder.
Das alles ist sehr gefährlich für eine Gesellschaft, die wir auf ethischen Grundsätzen aufbauen wollen.
Aber trotzdem! Statistiken sagen doch, dass es uns (nicht zu verwechseln mit der Erde als solche, wie eben erwähnt) besser geht als noch vor 30, 50 oder 100 Jahren.
Ja, das stimmt. Zumindest teilweise. Die Lebenserwartung wird immer höher, immer weniger Menschen hungern, wir haben weniger Kriege und Konflikte (sowohl zwischen Staaten als auch innerstaatlich), wir erforschen so viel wie noch nie. Wir reisen mehr als jemals zuvor.
Aber all dies betrifft nur unsere Körper. Unsere Psyche ist so unter Beschuss wie noch nie.
Immer mehr Depressionen, immer mehr Einsamkeit, immer flachere Gedankengänge.
Shoshana Zuboff hat den tollen Begriff Überwachungskapitalismus in die Welt gebracht.
Laut ihr sind die Staaten unfähig, die überwältigende Macht der Techkonzerne einzudämmen.
Sie vergleicht es mit dem Mittelalter.
Der Zugang zu Wissen ist auf eine kleine Gruppe von Aristokraten und Priestern beschränkt, die all die Daten in ihren Händen halten.
Auch sagt sie, ganz im Sinne unseres heutigen Themas, dass Staaten machtlos bleiben, solange nicht ein individuelles Umdenken bei den Menschen stattfindet. Dass sich die öffentliche Meinung, die Moral, ändern muss. Anpassen muss an die heutige Zeit.
Wir leben gar in einem völlig neuen Zeitalter. Ja, jetzt schon. Wir haben, was viele fundamentale Dinge angeht, nichts mehr gemein mit den Menschen von vor 30 Jahren.
Nach den Agrarnationen kamen die Industrienationen. Diese werden immer schneller abgelöst durch die Dienstleistungsnationen. Und wie schon zur Zeit der industriellen Revolution wirbelt es unsere gesamte Gesellschaft durcheinander.
Früher waren es die Körper, die, in Ermangelung von Arbeitsalternativen, in die Städte und Fabriken gedrängt wurden.
Heute ist es unser Geist, der versklavt wird. Manipuliert und abgeschöpft wird.
Eine sprudelnde Ölquelle.
Warum wohl sind 7 der Top 10 der wertvollsten Unternehmen der Welt Tech-Firmen?
Und wie das Öl unsere Umwelt verpestet, so verpestet die digitale Revolution unseren Geist.
Damit schließt sich der Kreis zur praktischen Philosophie, warum sie heute so wichtig ist. Warum es keine Gedankenspiele toter Männer aus der Antike sind, die wir schon lange überwunden haben. Warum aktuelle Philosophen gehört werden müssen.
Die moderne Medizin schafft es, unseren Körper immer älter werden zu lassen.
Doch wehe uns, wenn wir unseren Verstand dabei verlieren.
Wenn wir denken, dass unsere Demokratie, unsere Politiker, unsere Wissenschaftler es schon richten werden. Sie sind auch nur Menschen.
Aber was tun, wenn einem alles zu viel wird? Wenn das Vibrieren in unseren Hosentaschen stündlich von neuen Tragödien in der Welt kündigt? Wenn ICH doch nichts verändern kann?
Den Kopf in den Sand stecken? Resignieren? Besser noch, alle Werte zum Teufel jagen. Wenn Gutes nicht wirkt, warum es dann versuchen?
Die Moral hat der Mensch erfunden. Warum also nicht Back to the Roots, auf die Bedürfnisse hören, die uns die Natur gegeben hat? Fressen, Saufen, Sex, Gewalt.
Reduzieren wir uns auf das, was die Natur vorgesehen hat.
All das ist so einfach. Ist das die Lösung?
Nein. Wenn wir die Welt nicht ändern können, so können wir doch UNS ändern.
Helmut hat es schon gesagt. Die praktische Philosophie.
Individualismus und kooperative Menschenliebe schließen einander nicht aus.
Im Gegenteil.
Der Individualismus ermöglicht erst das erfolgreiche Miteinander. Und die Gemeinschaft schafft dann wiederum einen Raum, um sich auf die Arbeit an sich selbst konzentrieren zu können.
Sie sind heute Abend zu Gast bei Freimaurern. Auch wir vertreten genau diesen Ansatz.
Wir als Freimaurer bauen den Tempel der Humanität. Er setzt sich zusammen aus allen Menschen. Nur wenn alle Steine stark sind, kann dieser Tempel gelingen. Deswegen müssen die Steine vorher bearbeitet werden. Sie kennen sich selbst am besten. Sie wissen, wo ihr Stein herkommt, aus welchem Material er ist. Sie erkennen, wenn Sie ihn lange genug und ehrlich betrachten, jede Rundung, jeden Riss, jeden Einschluss.
Deswegen wissen Sie auch am besten, wie Sie ihn bearbeiten müssen. Sie stärken sich selbst, Sie sind bemüht, sich zu vollenden.
Das gesellschaftliche Wachsen kann nur Hand in Hand mit dem individuellen Wachsen erfolgen.
Lassen Sie uns heute Abend genau darüber reden. Doch bedenken Sie für die Diskussion noch einen Satz von Helmut:
Die moralische Motivation des einzelnen Menschen beruht auf dem
Bewusstsein, aus guten Gründen zu handeln.
Vergessen Sie für einen Moment das veraltete Bild von Gut und Böse. Das ist das Bequeme in Ihnen, das ängstliche. Das, was es zu überwinden gilt.